Zu den Polyedern von Loraine Heil
Astrid Vogel

Seit dem Sommer 1999 bestimmt die Auseinandersetzung mit Polyedern das plastische Werk von Loraine Heil.

Polyeder, das sind vielflächige regelmäßig-symmetrische oder unregelmäßige Körper in vielfältiger Erscheinungsform, in Natur und Wissenschaft zuhauf vorkommend und dennoch im Alltagsbewusstsein kaum vorhanden. Polyeder sind seit der Antike und bis heute immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Spekulationen. Frühe Erkenntnisse über Polyeder sind nur in einer einzigen Quelle festgehalten, in den Collectio des Pappus, einem griechischen Mathematiker um 320 v.Chr., und sein Wissen war bis in die Renaissance nicht zugänglich. Der Renaissancekünstler – z.B. Piero della Francesca, Albrecht Dürer oder Leonardo da Vinci – der sich forschend mit Geometrie, Mathematik, Konstruktion, Perspektive, also der gesetzmäßigen Erfassung der sinnlich fassbaren Welt auseinander setzte, »entdeckte« die Polyeder quasi neu. Geometrie und Symmetrie waren Versuche, die Welt und ihr Chaos zu ordnen, sie zu fassen, abzustecken, Erkenntnis zu erlangen.

Für viele Künstler waren und sind Polyeder geheimnisvolles Bildmotiv. Ihre künstlerische Darstellung ist vermutlich so alt wie die Wahrnehmung dieser Körper. Die ältesten gegenwärtig bekannten Zeugnisse sind die Schottischen Steinbälle (4000 v.Chr.). In Märchen, Sagen, Mythen und Religionen haben geschliffene Edelsteine und Kristalle symbolische Bedeutung, sollen ihrem Besitzer Macht, Ansehen, Reichtum, Unbesiegbarkeit oder Glück verschaffen. Man schreibt den Kristallen, also Polyedern, übernatürliche Eigenschaften zu, gewissermaßen Göttliches.

In Albrecht Dürers Kupferstich Melencolia I, 1514, flankiert ein Polyeder in rätselhafter Weise den geschlossenen Kubus eines Hauses, vor dem der Engel mit gebrochenen Flügeln gedankenverloren sinniert – ein Kupferstich, der bislang noch nicht definitiv entschlüsselt und gedeutet werden konnte und darin direkt auf die Melancholie an sich und die Unabschließbarkeit von Ausdruck und Deutung von Kunst verweist, die die aufkommende Moderne kennzeichnet.

Ohne diesen Kupferstich zu kennen, schuf Loraine Heil im Sommer 1999 für Das Haus ist Kunst (Installation/Skulptur zusammen mit Horst Busse im Schlosspark der Stadt Weinheim/Bergstraße) zwei große Polyeder, die das »Haus« flankierten – und wiederholte auf nicht weiter erklärbare Weise und sich eindeutiger Zuordnung entziehend ein Motiv, das gleich der Platonschen Ideenlehre eine Urgestalt zu sein scheint, eine universelle Erinnerung:

Die Ideen sind bei Platon (427-347 v.Chr.) die »Urgestalten« (eidos) der sinnlich erfahrbaren Dinge, ihr Seins – und Erkenntnisgrund. Sie sind unveränderlich und ewig. Ihre denkende Erfassung ist nicht Erfahrung, sondern »Erinnerung« , da die Seele aus den sinnlichen Gegebenheiten als solchen keine Wesenserkenntnis schöpfen kann. Platon war der erste, der fünf regelmäßige Polyederformen beschrieb. Sie heißen platonische Körper.

Heute arbeitet Loraine Heil an verschiedenen Polyedern, die jeweils mehrfach in Bronze gegossen sind und durch individuelle Legierung, anschließende Behandlung mit Säure, durch Politur oder Schliff Unikate werden. Als kleine, schwere und kompakte Körper sehen sie von jeder Ansichtsseite ein wenig anders aus, je nach dem, auf welcher seiner in der Regel 26 Flächen der Körper aufliegt. Die vielen Oberflächen jedes Körpers reflektieren oder absorbieren das Licht, die Oberflächen sind rauer oder weicher, samtiger oder glatt poliert wie ein vom Wasser geschliffener opaker Stein. In ihren Farben können sie stählern sein oder goldbraun oder grün-grau-schwarz-rot. Sie sind schwer zu beschreiben und immer einmalig.

Die Oberflächenstrukturen, die Farben und das Licht formen den Polyeder, geben ihm Gestalt in Wechselwirkung mit seiner plastischen Ausdehnung – er ist weder Kugel noch Würfel, den archimedischen Körpern angelehnt und gleichzeitig individuell entwickelte plastische Form – nicht mathematisch erschließbare, sondern durch das Schauen erfassbare Skulptur, die, wie alle Skulptur und jede künstlerische Arbeit nach den Gesetzen der Kunst – welche immer das auch sein mögen – bewertet werden will.

-- Astrid Vogel, Mannheim im Januar 2004

Quellen:
Meyers Großes Taschenlexikon, Band 17
http://btmdx1.mat.uni-bayreuth.de/~rockstroh/Platon.htm
http://www.math-inf.uni-greifswald.de/mathematik+kunst/polyeder.html


Weiterführende Beiträge:

Loraine Heils erste Polyeder:
Das Haus ist Kunst

Polyeder in Kunst und Natur:
http://btmdx1.mat.uni-bayreuth.de/~rockstroh/Platon.htm

Mathematik und Kunst – Polyeder:
http://www.math-inf.uni-greifswald.de/mathematik+kunst/polyeder.html

Der Kosmos ist ein Polyeder:
http://www.telepolis.de/deutsch/special/raum/15826/1.html